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Bernhard Mosler
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Naturbedingt verfügen Menschen über eine begrenzte geistige Kapazität, müssen unter vielen Informationen auswählen, was davon sie wie aufmerksam wahrnehmen, was sie ignorieren.
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Ein Mensch kann nur Informationen wahrnehmen, die auf ihn treffen oder in ihm entstehen. Er kann versuchen zu begünstigen, dass besondere Informationen auf ihn treffen, zum Beispiel indem er sich an einen bestimmten Ort begibt, indem er sich eines technischen Gerätes wie Mikroskop oder Teleskop zur Beobachtung eines besonderen Körpers bedient oder in einer Bibliothek nach Auskünften über einen speziellen Gegenstand recherchiert.
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Ein Mensch kann nur für wahr halten, was er wahrgenommen hat. Der Mensch nimmt sich selbst wahr. Er nimmt wahr, dass er ein Teil im Zusammenhang mit um ihn herum Geschehendem darstellt.
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Je komplexer Bedingungen sind, in die ein bestimmter Gegenstand eingebunden ist, unter tendenziell umso mehr Möglichkeiten kann ein Mensch wählen, welche Kombination von Informationen über den Gegenstand er beachten, was alles daran er außer Betracht lassen will. Tendenziell umso mehr Möglichkeiten hat er, ein und denselben Gegenstand so zu beschreiben und zu deuten, wie er es für wahr hält.
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Es liegt dem Einzelnen nahe, die Anerkennung einer Aussage als wahr davon abhängig zu machen, dass diese mit besonderen persönlichen Erfahrungen und/oder theoretischen Kenntnissen vereinbar ist.
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Was ein Mensch für wahr hält, kann von vorübergehenden Moden, religiösen oder politischen Ansichten, von dem, was andere meinen, mitbeeinflusst sein.
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Weil jeder Mensch einzigartig ist und das in sich wie auch um ihn herum Geschehende selektiv wahrnimmt, sind sich Menschen nicht immer einig darüber, was sie für wahr halten. Sie können übereinstimmend für etwas Bestimmtes aufmerksam sein und unterschiedlich deuten, was daran sie für wahr halten.
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Je komplexer Daseinsbedingungen von Menschen sind, umso vielfältigerer und individuell unterschiedlicherer Kombinationen von Informationen über ihre jeweiligen Umwelten mit sich selbst darin können verschiedene Menschen gewahr werden. Tendenziell umso mehr vom eigenen Befinden kann kein anderer Mensch als genauso wahr für sich bestätigen.
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Je komplexer Daseinsbedingungen sind, tendenziell umso eher kommt es vor, dass mehrere Personen deswegen unterschiedlicher Meinung sind oder aneinander vorbei argumentieren, weil sie mit ein und dem selben Begriff Unterschiedliches bezeichnen. Erst nachdem sie dies bereinigt haben, indem sie gleiche Inhalte gleich bezeichnen, klärt sich auf, ob sie Gleiches für wahr halten oder nicht.
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Je komplexer Daseinsbedingungen sind, tendenziell umso verunsicherter sind Laien, welche Aussagen welcher Fachleute sie ohne spätere Enttäuschung für wahr halten dürfen. Tendenziell umso eher neigen einige Menschen dazu, mehr Gewissheit für sich zu suchen, indem sie sich eine Wahrheit einreden und intolerant gegenüber Andersdenkenden sind.
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Je mehr Menschen einer definierten Gruppe eine bestimmte Aussage über einen besonderen Gegenstand als wahr bestätigen, tendenziell umso eher schließen sich dem auch die übrigen Gruppenmitglieder an, falls sie als Gruppe zusammenbleiben möchten.
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Serhii Plokhy:
„Die stetig auf uns einströmende Flut an Informationen überwältigt uns, es fällt uns schwer, angesichts der widersprüchlichen Meinungen eine eigene Haltung zu formulieren. Wir sind versucht, niemandem mehr zu glauben oder den Kreis von Vertrauten auf wenige Freunde und Social-Media-Gurus zu beschränken, wodurch eine Echokammer entsteht, in der die Wahrheit nicht ans Licht kommen, geschweige denn wachsen und gedeihen kann.“
Serhii Plokhy: Die Frontlinie – Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde; Hamburg 2022, S. 280f.
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Wer über einen Zugang zum digitalen Informationsnetz zweiter Struktur verfügte, könnte seine begrenzte Kapazität der Wahrnehmung tendenziell leichter gezielt auf eine Auswahl von Informationen über einen bestimmten Gegenstand festlegen, die für seine besonderen Anliegen relevant sind, für sich persönlich wahrhaftige Interpretationen darstellen.
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Wer im Informationsnetz zweiter Struktur recherchierte, könnte darin übereinstimmende Merkmale einer Aussage als Körper 1 mit Merkmalen anderer Körper ermitteln. Für je mehr Merkmale anderer Körper das Netz Vereinbarkeit oder Übereinstimmung mit Merkmalen der Aussage (Körper 1) anzeigte, umso eher spräche dies dafür, die Aussage für wahr zu halten.
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Wer über einen Zugang zum Informationsnetz zweiter Struktur verfügte, könnte sich leichter bewusst machen,
dass es Wahres gibt, das für jeden seiner Sinne Mächtige wahr sein kann, worin alle ihrer Sinne Mächtigen übereinstimmen;
dass es Wahres für mehrere bestimmte Menschen gibt, die sich in diesem übereinstimmenden Merkmal von allen anderen Menschen unterscheiden;
dass es Wahres gibt, das für einen einzigen Menschen wahr ist, worin sich dieser von allen anderen Menschen unterscheidet.
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