publikationen von Bernhard Mosler

diskurs & Progress

Gerechtigkeit

Bernhard Mosler

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Gerecht ist,

was einzelne Menschen von ihrer jeweiligen individuellen Befindlichkeit aus als gerecht erkennen

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Viele Menschen können darin übereinstimmen,  dass eine bestimmte Gegebenheit für da einbezogene Menschen mehr oder weniger deutlich gerecht oder ungerecht ist.  Dies bedeutet aber nicht,  dass jemand,  der eine bestimmte Gegebenheit in besonderer Hinsicht für gerecht oder ungerecht hält,  unbedingt zutreffend daraus schließen könnte,  alle anderen oder wenigstens die meisten Menschen würden dies auch so sehen.  Zunächst einmal muss man immer davon ausgehen,  dass es so viele Ansichten darüber gibt,  was gerecht und was ungerecht ist,  wie ihrer Sinne mächtige Menschen zeitgleich auf der Erde leben.  Denn die Befindlichkeit eines jeden Menschen ist Zeit seines Lebens einzigartig.  Bei Würdigung seiner gesamten Situation kann dem einen Menschen etwas ungerecht erscheinen,  woran sich ein anderer,  dem Gleiches widerfährt,  überhaupt nicht stört.  Je nachdem,  welchen Ausschnitt des Daseins welcher Auswahl von Menschen man miteinander vergleicht,  kann man zu sehr unterschiedlichen Bewertungen gelangen,  was gerecht und was ungerecht ist.  Erkennt man eine Ungerechtigkeit für die Person A im Vergleich zur Person B sowie in anderer Hinsicht eine Ungerechtigkeit für die Person B im Vergleich zur Person A,  dann könnte man eventuell daraus schließen, dass sich Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten zwischen den beiden Personen in dem begrenzten Betrachtungsrahmen die Waage halten und soweit zu einer Gesamtgerechtigkeit resultieren.  Lässt sich kein solcher Ausgleich zwischen den beiden Personen erkennen,  dann hat vielleicht die benachteiligt erscheinende Person A gegenüber einer Person C einen Vorteil,  den die Person B nicht hat,  sodass man soweit keine Ungerechtigkeit zwischen der Person A und der Person B mehr sieht.  Hat man den Eindruck,  bei einer Auswahl von Personen gehe alles in bestimmten Hinsichten tadellos gerecht zu,  und bezieht man einen größeren Personenkreis mit ein,  kann sich ein dem widersprechendes Bild der Ungerechtigkeit ergeben.

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Was gerecht ist,  lässt sich über die Gewährleistung einiger weltweit als gültig zu vereinbarender individueller Menschenrechte hinaus nicht einheitlich für alle beantworten.  Gerechtigkeit lässt sich zwischen Menschen immer nur in Bezug auf etwas Bestimmtes herstellen.  Je nach individueller Befindlichkeit und persönlichen Anliegen,  je nachdem,  welchen Ausschnitt von Informationen über ihre individuellen Daseinsbedingungen und über andere Menschen,  mit denen sie sich vergleichen, Menschen in ihre Ansichten einbeziehen,  können sie sehr Unterschiedliches als gerecht oder ungerecht bewerten.  Will man möglichst gerechte Verhältnisse innerhalb einer definierten Gruppe oder noch anspruchsvoller für alle Menschen auf der Erde über die Gewährleistung einiger individueller Menschenrechte hinaus,  dann muss man den vielen einzelnen Menschen ermöglichen,  ihre besonderen Anliegen so artikuliert in das gesellschaftliche Geschehen einzubringen,  dass sie jeweils das Gefühl haben,  in der gegebenen Gesamtlage unter Bedingungen zu leben,  die persönlich gerechten Verhältnissen möglichst nahe kommen.  Dieses Gefühl kann immer nur jeder für sich allein haben.  Um dahin zu gelangen,  muss ein Mensch seine einzigartige Befindlichkeit,  seine persönlichen Anliegen und möglichst umfassend für ihn relevante Informationen seiner Umwelt im eigenen Kopf zusammen denken und beurteilen können.  Stehen ihm für seine diesbezüglichen digitalen Recherchen unter komplexen Daseinsbedingungen nur Netze der ersten Struktur zur Verfügung,  dann ist er öfter mit dieser Aufgabe überfordert,  als dass er sie subjektiv zufriedenstellend erfüllt.

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Was tun Menschen,  die lediglich über digitale Netze der ersten Struktur verfügen,  wenn sie Zustände auf der Erde subjektiv als so ungerecht empfinden,  dass sie sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen möchten?  Im Prinzip gehen sie nicht anders vor,  als wenn sich ihre Möglichkeiten auf nichtdigitale Zugänge wie gedruckte Literatur, Funk, Fernsehen und persönliche Kontakte beschränkten.  Angenommen,  jemand folgert aus dem,  was er in seinem begrenzten Lebensrahmen erfahren und reflektiert hat,  alle Menschen einer größeren Gruppe oder weltweit würden seine Ansichten darüber teilen,  was gerecht und was ungerecht ist,  und ließe anderen Menschen ungefragt über deren Köpfe hinweg zuteil werden,  was diesen seiner Ansicht nach mehr Gerechtigkeit bringt.  Damit unterschätzte er leicht die Bedeutung dessen,  dass jeder Mensch in seiner individuellen Lage, über die meistens niemand so viel weiß wie er selbst, aus seiner eigenen Perspektive bestimmen muss,  was gerecht,  was ungerecht und was belanglos für ihn ist.  Es ist zum Beispiel nicht unbedingt aussichtsreich,  zur Überwindung einer irgendwo auf der Erde entdeckten vermeintlichen Ungerechtigkeit Spenden bei relativ wohlhabenden Menschen zu sammeln und mit dem Geld gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit anzugehen,  wenn diejenigen,  die nach besonderen Kriterien würdiger leben sollen,  nicht hinreichend dazu in der Lage sind, ihre individuellen Befindlichkeiten und Anliegen den angebotenen,  vermeintlich für sie günstigeren Bedingungen anzupassen,  davon dem eigenen Empfinden nach zu profitieren.

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Im überschaubar kleinen Rahmen können Menschen erfolgreich dazu beitragen,  Nöte anderer zu lindern, die sonst nicht dazu in der Lage wären.  Doch je komplexer Daseinsbedingungen sind,  tendenziell umso weniger trifft dies zu.  Denn tendenziell umso unfähiger werden Menschen,  die für digitale Recherchen zur Vorbereitung von Entscheidungen für bestimmtes Verhalten nur Netze der ersten Struktur nutzen,  das zu erreichen,  was sie sich vornehmen und zugleich unbeabsichtigte unerwünschte Nebenfolgen zu vermeiden.  Wenn dann beispielsweise einige wenige Menschen  zentral entscheidend oder in privater Wohltätigkeit ihren persönlichen Ansichten über Wünschenswertes folgend versuchen,  „gerechte“ Lebensbedingungen für eine definierte Gruppe aufrecht zu erhalten oder herzustellen,  und je größer die Gruppe ist,  tendenziell umso aussichtsloser ist es,  ein Ergebnis zu erzielen,  das jeder einzelne oder wenigstens die meisten der Beschenkten in ihren individuellen Befindlichkeiten aus ihren subjektiven Perspektiven als ungefähr gerecht ansehen würden.  Je weniger ein Mensch ein Geschenk mit seiner Persönlichkeit vereinen kann,  umso weniger bedeutet ihm dieses Geschenk.

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Wem der Einsatz für größere,  anderen Menschen zugute kommende Gerechtigkeit nicht bloß ein edel scheinender Vorwand ist,  mit dem er glaubt,  persönlich mehr Einfluss,  ökonomische oder andere Vorteile leichter für sich selbst erlangen zu können,  sondern der sich tatsächlich in bestimmten Belangen für mehr,  anderen Menschen zugute kommende Gerechtigkeit einsetzen möchte,  kann soweit erfolgreich damit sein,  wie es sich um objektiv Feststellbares wie beispielsweise gleichen Lohn für Erbringer bestimmter einwandfrei messbarer gleicher Leistung handelt.  Will man ein größeres Maß an Gerechtigkeit auch da,  wo sie weniger eindeutig zu ermitteln ist,  muss man möglichst vielen Menschen auf der Erde umfänglichere Kompetenz zum Beurteilen komplexer und vielleicht noch komplexer werdender Daseinsbedingungen zugänglich machen,  was den Einzelnen in die Lage versetzte,  weitläufiger zu recherchieren,  was die für seine persönliche Identität maßgeblichen Anhaltspunkte sind,  an denen er festmachen möchte,  inwieweit es in seinem Leben subjektiv empfunden gerecht zugeht,  und zu ermitteln,  ob und gegebenenfalls wo sich Menschen befinden,  mit denen er gemeinsam sein Leben in einer Weise gestalten könnte,  die womöglich seiner Persönlichkeit gerechter als das bisher Erreichte würde.  Dieses umfänglichere persönliche Urteilsvermögen könnte der Einzelne mit dem Zugang zum digitalen Informationsnetz zweiter Struktur erwerben.

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Direkte Demokratie

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